Die kleine und die große Stille

Rudolf Walter im Gespräch mit Anselm Grün

Haben Sie persönlich einen ganz ruhigen Ort, an den Sie sich zurückziehen können?

In meiner Klosterzelle, am Morgen nach dem Frühchor. Da ist es ganz still, da dringt auch kein Geräusch durchs Fenster.

Stille – ist das nur die Abwesenheit von Reden oder von Lärm?Also etwas Negatives?

Wenn wir sagen, ein Kirchenraum sei still, ist das ja eine positive Aussage. Oder wenn wir in einem Wald keinen Autolärm hören, dann hat das für uns eine wohltuende Qualität. In der Stille erfahren wir das reine Sein und sind in seinem Grund geborgen. Wir erleben intensive Fülle, sind ganz im Augenblick. Zeit und Ewigkeit fallen in eins. Wir erfahren Einssein.

„Wenn es nur einmal so ganz stille wäre…“, so heißt es in einem Rilkegedicht aus dem „Stundenbuch“. Einmal abgesehen von Ihrer Zelle: Wo ist es denn heute noch richtig still?

Absolute Stille gibt es nicht. Selbst an unserer idyllischen Bachallee im Kloster hört man den Lärm der Autobahn. Dass man nur das Rauschen des Windes im Ohr hat und sonst gar nichts, das ist selten. Aber man findet Gottseidank noch ruhige Gegenden, wo noch das Plätschern eines Bachs die Stille belebt

Es gibt aber ja nicht nur die Außengeräusche, die Autos, Flugzeuge und Rasenmäher. In dem zitierten Rilkegedicht geht es weiter: „Wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,/ mich nicht so sehr verhinderte am Wachen…“ Da ist also offensichtlich auch Lärm, der aus mir selber kommt?

Sicher, auch unsere Gedanken lärmen: Wenn wir ständig über andere nachdenken und urteilen, reden wir im Geist ja auch. Und es gibt Menschen, die zwar nichts sagen, aber in deren Nähe man merkt, dass sie Unruhe ausstrahlen. Stille ist also mehr als Schweigen oder den Mund halten. Sie ist eine Qualität. Es gibt ein chinesisches Wort, dass die Stille alles Trübe klärt. Wenn ich stehenbleibe und stillhalte, klären sich meine Emotionen, werde ich selber klarer. Es ist wie beim Reifungsprozess des Weins: Er muss stehen bleiben, damit das Trübe nach unten sinkt.

Interessant an der Formulierung Rilkes: Geräusche verhindern gerade das Wach-Sein – sie lenken ab, lassen einen wie in Trance verfallen …

Stille ist eben gerade kein Eindösen. Man lebt mit wachen Augen. Man sieht die eigene Wahrheit. Lärm – das Wort kommt von Alarm, „all arme“, zu den Waffen gehen - , heißt: Man kämpft gegen den unangenehmen Aspekt der Stille, die einen der eigenen Wahrheit ungeschützt ausliefert.

Rilkes Gedicht steht im „Stundenbuch. Vom mönchischen Leben“. Es gibt den Film über die Kartäuser: „Die große Stille“. „Silentium“ heißt ein neuer Dokumentarfilm über ein schwäbisches Benediktinerinnenkloster. Wieso ist das Schweigen für das monastische Leben so wichtig.

Schweigen ist für die Mönche Ort der Gottesbegegnung. Es hat für sie aber auch weitere Aspekte: Schweigen ist Begegnung mit mir selbst. Da begegne ich zunächst einmal meiner eigenen Wahrheit. Und nur wenn ich mir begegne, kann ich auch Gott begegnen. Das zweite ist: Freiwerden vom inneren Lärm, Loslassen der vielen Gedanken, Freiheit von Fixierung und Bindungen. Das dritte: Stille als Einswerden, auch mit Gott. Gott spricht in der Stille, wenn ich ungeschützt bin, um dem Unbegreiflichen zu begegnen. Viele beten und beten und merken gar nicht, dass sie gerade dadurch Gott aus dem Weg gehen. Beten heißt: still werden und auf Gottes Stimme hören.

Man kann durch Lärm auch taub werden. Gibt es nicht nur Gottesvergessenheit? Sollte man eher von Gottestaubheit sprechen?

Der Taube nimmt die Stille nicht mehr wahr – und hört auch nicht, was sie sagen kann.

Ist Gott denn nur in der Stille? Benedikt verlangt doch auch „mit aufgeschreckten Ohren“ durchs Leben zu gehen.

Natürlich höre ich ihn auch in den Worten. Auch in der Musik etwa. Und auch im Schrei der Unterdrückten. Aber auch dafür muss ich offen sein. Stille öffnet das Herz und die Wahrnehmung. Wer nur mit dem Walkman durchs Leben läuft, verstopft seine Ohren.

„Mönche als Gärtner der Stille“: Sie kultivieren sie nicht nur, sondern geben auch ihre Früchte weiter. Wie geht das?

Im Gästehaus unseres Klosters gibt es z.B. kein TV. Menschen, die sich eine Woche lang mit der Stille konfrontieren, ohne Kommunikationsmittel, die ständig ablenken, erfahren, dass das gut tut.

Das sind aber nur „Schnupperzeiten“. Wie geht das dann im Alltag weiter?

Viele versuchen sich dann auch zu Hause Zeiten der Stille zu reservieren, bevor sie zur Arbeit gehen. Oder gönnen sich einen zweckfreien Spaziergang. Oder setzen sich in eine stille Kirche.

Was verbindet solche „kleinen“ Oasen der Stille mit der „großen Stille“, die mystische Qualität hat?

In der kleinen Stille ist etwas von der großen Stille zu erahnen. Da kann man sozusagen auf ihren „Geschmack“ kommen. Die Freiheit gar nichts denken, nichts tun, nichts planen zu müssen, das schafft schon eine neue Qualität des Seins. Es unterbricht die Ansprüche, die andere ständig an uns haben, die um unsere Aufmerksamkeit, unsere Zuwendung und Zeit buhlen, die etwas von uns wollen und uns von uns selber ablenken. Stille bringt mich in Berührung mit mir selber. Ich spüre mich, höre die inneren Impulse meiner Seele, höre, was mein Herz mir sagt.

Auch Luxushotels werben heute damit, dass es kein WLAN und keinen Fernseher gibt…Und es gibt neuerdings Tourismuskationen mit dem Slogan „Stille statt Sonne“…

Auch das zeigt: Stille ist eine Wohltat. Aber natürlich halten nicht viele das aus. Denn in der Stille taucht auch die Frage auf: Stimmt mein Leben wirklich? Oder lebe ich an mir vorbei? Nicht der Lärm bringt heute viele aus ihrer Ruhe, sondern die Stille.

Was ist das denn für Sie: „himmlische Ruhe“? Der „Münchener im Himmel“ bei Ludwig Thoma beschwert sich ja über das ewige Halleluja-Singen im Jenseits.

Himmel – das ist beides: Musik, aber auch Frieden und Ruhe. Zu sagen, es ist gut so! Wir sprechen ja auch von der Sabbatruhe Gottes, der sich am 7. Tag ausruht, nachdem er sieht, dass alles schön und gut ist. Solche Stille und Ruhe ist aber auch Zustimmung. Und die kann sich auch ausdrücken in Singen, in Lob und Preis. „Himmlische Ruhe“ schließt also schon auf Erden beides ein: Musik und Ruhe.

In: einfach leben Nr. 9– 2015. Thema: Die Kraft der Stille, S. 10f; siehe auch http://goo.gl/ULByLW