Schon so viele Jahre lang durften wir Freibuger den schönsten Turm der Christenheit nicht mehr ohne Gerüst sehen - ich sehne mich jetzt geradezu nach seiner Enthüllung. Wie viele Generationen haben mit Herzblut an ihm gebaut, an diesem Münster Unserer Lieben Frau. Erstaunlich, wieviele Menschen das Freiburger Münster lieben. Selbst Jogi Löw engagiert sich für seinen Erhalt. Aus esoterischen Kreisen hörte ich, der Freibuger Münsterplatz sei eines der kraftvollsten Herzchakren der Erde und ein uralter Platz der Verehrung für das göttlich Weibliche.
Jedenfalls fühle ich mich hier irgendwie herzlich willkommen, fast wie liebevoll umarmt, seit ich den Münsterplatz betreten habe. Und gern trete ich ein durch den Renaissanceportalbau und die romanische Tür des heiligen Nikolaus in diesen weiten Raum, der für seine Erbauer als Abbild des himmlischen Jerusalems galt...
Im Inneren der Kathedrale ist es selten still, am ehesten vielleicht am frühen Morgen oder abends in den wenigen Minuten nach der Abendmesse, in denen die Kirche noch geöffnet bleibt. Tag für Tag fühlen sich viele so ganz und gar unterschiedliche Menschen angezogen von diesem heiligen Raum. Was suchen sie hier?
Die hunderte von Opfer-Kerzen, die jeden Tag neu vor dem Marienaltar entzündet werden, lassen mich ahnen, dass viele Anliegen, Sorgen, Ängste, oder vielleicht auch Dankgebete, hierhergetragen werden. Nein, sie ist nicht wirklich gestört, die Stille, durch all die vielen Menschen und Geräusche hier. Ich schließe meine Augen und ahne etwas von dem Mysterium, das ich in Büchern über Quantenphysik gelesen habe: Dass Zeit nicht wirklich vergeht, dass alle Zeit gemeinsam gleichzeitig lebendig ist in diesem Augenblick...
Ich erinnere mich noch gut, als ich das erste Mal das Böcklin-Kreuz bewusst wahrgenommen habe. Es hat mich damals tief berührt, ja regelrecht erschüttert. Er schaut so lebendig zu mir hin, dieser Christus, so gegenwärtig. Es ist, als umarme er mich und die ganze Welt mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Seltsam, wenn ich dieses Kreuz betrachte, ahne ich, das die Christuswirklichkeit ganz anders, immer wieder so ganz anders ist als alle Bilder und Ideen, die sich mein Verstand davon gemacht hat. Und dass sie eigentlich weniger da oben an diesem achthundert Jahre alten romanischen Kunstwerk hängt - sondern mir entgegenkommt in jedem Wesen, dass mir begegnet. Auch im Innersten meiner Selbst...
Sie haben offenbar Humor gehabt, die mittelalterlichen Künstler. Vergnügt betrachte ich das Glasfenster auf der linken Seite des Kirchenschiffes, in dem Josef den Ochsen verdrischt, weil er so frech war, die Windel des Jesuskindes klauen zu wollen...
Es ist schon lärmig in diesem Münster - immerzu ein Kommen und Gehen, das Klicken der Kameras, das Getuschel von Touristen. Ich gehe vorne links durch die Absperrung und finde die Gebetskapelle. Hier ist es still, nur noch von fern raunt wie ein Rauschen das Getriebe der vielen Besucher. Schon oft bin ich hier für eine Weile zur Besinnung eingekehrt. Fast nie war ich allein. Ich spüre die starke stillschweigende Verbindung zu den Menschen, die hier sitzen und meditieren.
Ich könnte den ganzen Tag in oder um das Münster herum verbringen. Was mich unter vielem anderen in besonderer Weise fasziniert, sind die dämonischen Wasserspeier außen an den kleinen Seitentürmen des Münsters, und die Fratzen in den Glasfenstern. Nein, das Dunkle, Wilde, gar sogenannt Böse ist nicht ausgeschlossen in diesem himmlischen Jerusalem. Es ist alles integriert hier und hat seinen Platz. Vielleicht hat das Münster auch daher seine so unvergleichliche Schönheit, weil hier alles zusammengehört, alles Licht und alle Schatten...
Nach so viel Spiritualität gehe ich erst mal auf den Balkon des Cafe Lazzarini und schlecke in aller Ruhe genussvoll meinen Eiscafe. Meine Kindheit kommt mir in den Sinn. Nirgendwo schmeckte das Eis - es kostete damals 10 Pfennige - so unvergleichlich köstlich wie hier auf dem Münsterplatz.
Ich verlasse den Münsterplatz an seiner Südseite, wandere das kleine Gässle mit dem Bächle neben der Weinstube Oberkirch entlang, gehe dann einige Meter links, gleich wieder rechts und erreiche die Salzstrasse. Linker Hand liegt die Buchhandlung Wetzstein mit ihrer Liebe zur Poesie
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Johannes Latzel: Ein Weg der Stille in Freiburg. Teil 4